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"Waschtage"

Anfang 2012 ging es meinem Vater sehr schlecht. Er hatte verschiedene Keime in der Lunge und wurde in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) intensivmedizinisch betreut. Während ich meine anfänglich engmaschigen Untersuchungen in Heidelberg wahrnehmen sowie die Dialysetage einhalten musste und so frisch transplantiert auch gar nicht zu ihm gedurft hätte, kämpfte er in Hannover um sein Leben. Meine Mutter hielt mich telefonisch auf dem Laufenden. Es war eine schlimme Zeit für mich. Ich war so machtlos. Es ist unerträglich, wenn es einem geliebten Menschen schlecht geht, man ihm nicht helfen und noch nicht einmal bei ihm sein kann. Zum Glück konnten ihn die Ärzte in Hannover wieder einmal retten. Sein Spenderherz hat alles gut überstanden. Die Nieren allerdings, die durch die jahrelange Medikamenteneinnahme (zu dem Zeitpunkt bereits 19 Jahre) eh schon in Mitleidenschaft gezogen worden waren, hielten den Strapazen nicht stand. Ab diesem Zeitpunkt musste auch Papa dialysiert werden.

 

War mir mein Vater Vorbild und Ratgeber im kardiologischen Bereich, so konnte ich ihm nun aus nephrologischer Sicht Tipps geben. Im Frühjahr 2013 bin ich komplett in meine Heimat zurückgekehrt.

 

Sehr dankbar durch die Dialyse weiterhin leben zu können, wurden die gemeinsamen “Waschtage” fester Bestandteil in unserem Leben, quasi unser Job. Andere gingen zur Arbeit, Papa und ich zur Blutwäsche, d. h. wir wurden per Taxi chauffiert. Aufgrund wiederholter Blutdruckabfälle nach der Behandlung für alle der sicherste Weg. Jedoch brachte diese Art der Beförderung eine zusätzliche Abhängigkeit mit sich. Warten auf den Fahrer bzw. Mitpatienten. Wenn man nach vier bis fünf Stunden endlich vom Dialysegerät abgenommen wurde, konnte jede zusätzliche Warteminute zur Qual werden. Endlich zu Hause angekommen, ausgehungert und erschöpft, musste, ja musste, das Essen schon bereit stehen. Mama hatte es wahrhaftig nicht leicht mit uns, so lange die Mägen noch leer waren. Vollgefuttert fielen wir dann meistens sofort in einen Erholungsschlaf, so fern der Shunt dicht hielt.

 

Der Shunt ist die Anschlussstelle für die Dialyse, sozusagen die Lebensader. Nachdem ich über ein Jahr mit einem Demers-Katheter dialysiert habe wurde im linken Unterarm operativ eine künstliche direkte Verbindung zwischen Arterie und Vene hergestellt. Was im Frühjahr 2012 am Hals behoben wurde, die AV-Fistel aufgrund eines Fehlers beim ZVK legen, ist an dieser Stelle für die Dialysebehandlungen gewollt, weil für eine effektive Behandlung notwendig. Ich hoffe, es ist in etwa klar, wer Näheres wissen möchte kann natürlich googeln.

 

Ich war jedenfalls froh, als ich den Katheter, meinen Schnorchel, endlich los war. Dieser lag bei mir nämlich ziemlich weit unter dem rechten Schlüsselbein, eigentlich eher schon am Brustansatz, ragte ca. 10 cm aus meinem Körper raus. Er hatte Vor- und Nachteile. Die Dialyse konnte schmerzfrei  über die Bühne gehen. Zudem hatte man beide Hände frei und konnte sich die Brötchen selber schmieren. Sehr unpraktisch war er allerdings beim Duschen. Naja und optisch war er auch kein Highlight. Der Shunt hingegen schließt sich nach jeder Behandlung. Duschen sowie baden ist kein Problem.

 

Um so mehr Blut durch Ader, Vene und somit durch das Dialysegerät fließt desto effektiver ist die Behandlung. Bei jeder Dialyse werden daher 1,8 mm dicken Nadeln, ich sage immer Stricknadeln, jeweils in Vene und Arterie gestochen. In der Dialysesprache heißt das, man wird punktiert.

 

Nachdem man punktiert wurde lag man also dort und hat versucht die Zeit irgendwie rum zu bekommen. Manchmal gelang es ganz gut, an manchen Tagen weniger. Pizza brachte den ein oder anderen Abend immer etwas Abwechslung. Am besten ‘ne kleine Hawaii mit wenig Käse.

 

Essen sowie das Kochen und Zubereiten von Speisen für Dialysepatienten ist nämlich eine Wissenschaft für sich. Kalium- und phosphatarm muss die Ernährung sein. Aufgrund unserer Einnahme von Immunsuppressiva (so heißen die Medikamente, die die Abstoßung der Spenderherzen verhindern) zusätzlich keimarm. Zum Glück war mein insulinpflichtiger Diabetes nur aufgrund der hohen Cortisongabe nach der Herztransplantation entstanden und gehörte nach einem halben Jahr der Vergangenheit an. Darauf musste somit nicht mehr geachtet werden. Um es etwas einfacher zu gestalten, habe ich im Internet recherchiert und einige Bücher erworben. Mama konnte uns immer leckeres dialysegerechtes Essen zaubern.

 

An die Dialysediät habe ich mich weitgehend gehalten, also kaum Kartoffel-, Vollkorn- und Milchprodukte, keine Schokolade, keine Nüsse, nur bestimmte Obst-/Gemüsesorten. An manchen Tagen bin ich allerdings auch mal schwach geworden, habe zu viel Käse gegessen und Obst. Schon kam am Folgetag meistens direkt die Quittung in Form von höllischem Juckreiz, durch zu viel Phosphat in Milchprodukten oder die Waage zeigte zu viel Wasser an. Obst enthält schließlich einiges davon. Bei einer Trinkmengenbeschränkung von ca. einem Liter macht sich das schnell bemerkbar. Es war absurd, aber gefühlt wurden die gesündesten Lebensmittel zu den gefährlichsten.

 

Trotz der ganzen Einschränkungen, Verbote und der Abhängigkeit war es mir immer wichtig, mein neues Leben zu genießen. Ich habe schließlich keine zweite Chance erhalten um diese mit Trübsal blasen und Selbstmitleid zu verbringen. Im Gegenteil.

 

Mein Motto lautete: jetzt erst recht.

 

Soweit aus medizinischer Sicht nichts dagegen sprach versteht sich. Das Reisen vor allem. Sicher, es ist schon aufwendig die ganzen Dialysen an verschiedenen Orten zu planen. Neben Hotel und Flug musste immer ein Dialyseplatz dazu gebucht werden. Mit vorheriger Genehmigung der Krankenkasse. Das stellte sich aber nie als Problem dar. So konnte ich Mallorca, Kreta, Fuerteventura, Fehmarn, Sylt und diverse Städtereisen innerhalb Deutschland unternehmen (näheres findet Ihr bald in der Rubrik Fotoalbum-Reisen). Auf Sylt habe ich - DANK meiner Krankheit - eine Freundschaft schließen dürfen, die ich ohne Dialyse nie hätte schließen können.

 

Über die Vor- und Nachteile der Dialyse könnte ich so einiges schreiben, aber das würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Man ist einfach eingeschränkt. Die Dialyse kennt kein Weihnachten, kein Ostern oder sonstige Feiertage. Keinen Geburtstag oder Urlaub, geschweige denn zusätzliche Krankheiten, nein, auch keine Magen-Darm-Grippe. Jeder zweite Tag muss das Blut gewaschen werden und nach einem “langen“ Wochenende ohne Dialyse ist man am dritten Tag regelrecht froh und freut sich darauf wieder zig Kilo leichter sowie weitmöglichst entgiftet zu werden. Eine komplette Entgiftung ist jedoch nie möglich durch die künstliche Blutwäsche. Nur eine richtige Niere kann diese Aufgabe übernehmen. Doch die Wartezeit auf ein passendes Spenderorgan liegt zwischen sieben bis zwölf Jahren.

 

Umso glücklicher war ich, als sich eine Tante von mir zur Lebendspende bereit erklärt hat. An eine Lebendspende aus der Familie hatte ich bis zu dem Zeitpunkt gar keinen Gedanken verloren. Wir sind zusammen in die MHH gefahren und haben uns testen lassen. Leider mit negativem Ergebnis. Ihre Werte waren nicht kompatibel. Für Ihre Bereitschaft, dass sie diesen Schritt für mich gegangen wäre, werde ich ihr immer sehr dankbar sein.

 

Meine Mutter hatte Jahre zuvor Zysten an den Nieren, daher haben wir nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie überhaupt als Spenderin in Frage kommen könnte. Als ich aufgrund meiner Niereninsuffizienz nun mit einigen Nierenpatienten in Verbindung gekommen bin und erfahren habe, dass diese aufgrund von Zystennieren dialysepflichtig geworden sind, bekam ich Angst und bat meine Mutter ihre Nieren zu kontrollieren. Diese hatte aufgrund der letzten Jahre nicht wirklich an ihre eigenen Arzttermine gedacht.

 

Nie werde ich den Nachmittag vergessen als sie nach dem Termin beim Arzt plötzlich vor mir stand, in die Hände klatsche und strahlend rief, “ich kann Dir eine Niere spenden, ich kann Dir eine Niere spenden.”

 

Ich konnte es nicht glauben. Was? Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, habe sie ganz feste umarmt und geweint. Ihr Zysten waren nicht mehr nachweisbar. Doch neben der ganzen Euphorie mussten wir natürlich erst einmal getestet werden. Mama war sich allerdings schon sicher, “das klappt”. Wir wurden in der MH Hannover vorstellig. Es wurden die nötigen Tests gemacht. Dann hieß es abwarten.

 

Eines Nachmittags klingelte mein Telefon, die MHH: 

die Niere von Mama passt.

 

Sie war gerade im Garten. Sofort bin zu ihr gelaufen und fing direkt an zu weinen. Sie hat sich sehr erschrocken und an etwas Schlimmes gedacht. Als ich endlich wieder zu meiner Stimme fand und ihr die wunderbare Neuigkeit mitteilen konnte haben wir beide geweint.